Im Finkenburgmoor

Eine sumpfige Forschungsreise von Lehrer H. Dietrich.

Komm mit zu einer feucht-fröhlichen Schaukelpartie hinaus aufs schwankende Moor! Zuvor aber einen prüfenden Blick auf Dein Schuhwerk; denn unsere Forschungsreise wird wohl ein gut Teil mehr feucht als fröhlich werden. Im Bereiche der Finkenburg kann auch der solideste Mensch einmal gründlich „versumpfen“! – Wenig Schritte, und wir sind am Ziel. Weithin schweift der Blick über die sonnenbestrahlte Wiesenflur, die sich in flacher Bodenmulde vom Rande des Stockholzes bis weit hinter die Finkenburg erstreckt. Die vielen kleinen murmelnden Wasserläufe, umsäumt von schwankendem Ried, die Torfstiche hier und da, die flatternden Fahnen des Wollgrases – das alles verrät uns gleich den Sumpf. Leise streicht der Moorwind darüber hin. Macht die Landschaft nicht einen schwermütigen, melancholischen Eindruck?

Wie konnte die Heimatflur nur so in den Sumpf geraten? Wenn wir eine Antwort auf diese Frage haben wollen, müssen wir viele Seiten zurückblättern im großen Buche der Natur. Wir müssen mit unserer Phantasie hinabsteigen in jene graue Vergangenheit, da hierzulande noch keines Menschen Fuß gewandelt ist. Ewige, allgewaltige Naturkräfte sind seit jenen fernen Jahrtausenden bis auf den heutigen Tag am Werke, das Antlitz unserer Heimatflur langsam aber erfolgreich zu durchsuchen und zu verändern: Das Wasser meine ich und den Wind! In jahrtausendelanger Arbeit haben all die kleinen Flüsse und Bäche am Gestein genagt, das unsere Heimatberge aufbaute: am Basalt, am Gneis, am Glimmerschiefer. Der Frost war ihnen ein treuer Gehilfe beim heimlichen Zerstörungswerk, und die Schmelzbächlein des tauenden Schnees haben auch das ihrige beigetragen. Was so Wasser, Frost und auch der Wind in ewigem Schaffen von den Felsen und Gesteinen abgenagt haben, das setzten sie in breiten, dicken Schichten an den Ufern der Bäche und Flüsse ab. Wir nennen diese Ablagerungen Flußkies und Lehm. In ihnen findet der Forscher noch heute unter dem Vergrößerungsglas die winzigen Reste der Gesteine, von denen sie stammen. Dicke Schichten solchen sogenannten „Wiesenlehmes“ bilden auch die Unterlage zu unserem Moore an der Finkenburg. Infolge der tonigen, zähen Beschaffenheit dieses Lehmes, der ja bekanntlich das Wasser schlecht durchläßt, geriet das Wasser, welches von der Roten Pfütze und den vielen kleinen Bächlein hier in die Bodenmulde geführt wurde, ins Strauen. So mögen hier, wo wir jetzt auf schwankendem Wiesengrund schreiten, viele große Wassertümpel gestanden haben. Den ehrwürdigen Fichten des stolzen Hochwaldes, der damals vermutlich die ganze Fläche des heutigen Moores bedeckte, wird die Durchwässerung ihres Bodens freilich gar nicht gefallen haben. Sie verließen allmählich den feuchten Ort oder büßten ihre Beharrlichkeit mit dem Untergange. Die dicken Stämme und Stümpfe, die Du noch heute in den tieferen Schichten des Torfstiches antriffst, geben Zeugnis vom ehemaligen Vorhandensein des Hochwaldes. – An Stelle der ausgewanderten Waldbäume kamen bald andere Ansiedler aus dem Pflanzenreiche. Schilf, Binsen und Riedgräser umwucherten bald das Ufer der Teiche und Tümpel, während auf dem stillen Wasserspiegel allerlei Schwimmpflanzen heimisch wurden. Alljährlich im Herbst sanken ihre sterblichen Ueberreste auf den Wassergrund, wo sie eine immer dicker werdende Schlammschicht bildeten. Seichter und seichter wurde das Gewässer. Immer weiter hinein nach der Teichmitte wagten sich die Uferpflanzen. Endlich erreichte die schlammige Schicht vom Grunde her die Wasseroberfläche, und verschwunden war der glänzende Wasserspiegel! Die Tümpel sind allmählich „verlandet“, wie der Naturforscher sagt. Die lebendige Pflanzendecke, die nun den ganzen Sumpf bedeckt, läßt keine Luft zu den absterbenden Pflanzenteilen unter ihr. Darum verfaulen diese nicht, sondern werden zu Torf, den Du ja hier überall vorfindest. (Ganz ähnlich sind übrigens auch unsere Braunkohlen entstanden!)

Doch nun rasch einen Blick auf all das merkwürdige Pflanzenleben, das jetzt hier seine Heimat hat. Sonst kommt uns das nasse Element in die Schuhe, ehe wir uns noch recht umgeschaut!

„Wiesenmoor“ nennen wir solch ein Moor, weil seine trockneren Teile zur Grasnutzung Verwendung finden und weil es hauptsächlich mit Gräsern bewachsen ist. Diese vielen zierlichen Grasarten mit den schlanken, knotenlosen Halmen und den scharfrandigen, schneidenden Blättern sind „Ried- oder Sauergräser“. Den letzteren Namen haben sie von dem Torfboden, auf dem sie stehen. Dieser enthält nämlich eine Säure, die wir „Humus-Säure“ nennen. Das schönste der Riedgräser ist das „Wollgras“, das mit den weißen, seidenweichen Haaren an Blüten und Früchtchen dem Wandersmann schon von weitem das Moor verrät. Weil der Sumpfboden sehr arm an Atemluft ist, haben all diese Riedgräser ihre Wurzeln nur in der obersten Bodenschicht. Den Gräsern ähnlich sind auch die schönen, dunkelgrünen Binsen, deren braunes Blütenbüschel ein Stück unterhalb der Halmspitze zu sitzen scheint. Aus dem weißen Binsenmark werden in manchen Gegenden kleine Körbchen geflochten. Vergeblich wirst Du übrigens an dieser Pflanze Blätter suchen. – Doch jetzt gib acht! Hier, wo der Boden immer nässer wird, wo die langen Grashalme kleinen, fein verästelten Moosen Platz machen, entdecken wir den allermerkwürdigsten Sumpfbewohner! Sehen diese zierlichen, langgestielten, glitzernden Blättchen, die hier in einer Rosette dem Moospolster aufliegen, nicht aus wie winzige Nadelkissen? Auf dünnem Stiel erhebt sich die kleine weiße Blüte aus der Blattrosette. „Rundblättriger Sonnentau“ heißt das Kräutlein und ist – höre und staune! – eine fleischfressende Pflanze! Jedes Blatt ist mit 150 bis 200 feinen rötlichen Wimperhaaren besetzt, von denen jedes ein gelbliches Köpfchen trägt. Wegen des tauartigen Schimmers dieser Köpfchen hat eben die Pflanze den Namen Sonnentau erhalten. Berührst Du eins der Köpfchen, so bemerkst Du, daß es klebt. Es enthält in der Tat einen Klebstoff und eine Säure, die unserem Magensaft ähnelt. Setzt sich nun ein kleines Insekt, in der Meinung, Honig zu finden, ahnungslos auf ein Sonnentaublatt, so krümmen sich alle Haare nach der Blattmitte, und die Köpfchen kleben das hilflose Tier fest. Von der Säure wird es aufgelöst und dann regelrecht verdaut! Kommst Du einige Tage später wieder zu dem heimlichen Mordgesellen, so findest Du höchstens noch ein Panzerstück des armen Opfers. – Doch warum das alles? Kann sich denn der Sonnentau nicht auch ernähren, wie es einer anständigen Pflanze zukommt? So fragst Du mich. Da gebe ich Dir folgendes zu bedenken: Ein wichtiges Pflanzen-Nahrungsmittel ist der Stickstoff, der Dir ja als ein Teil der uns umgebenden Luft bekannt ist. Dieser Stickstoff steckt aber auch im Eiweiß, das nicht nur im Hühnerei enthalten ist, sondern welches auch zum größten Teile den Leib der Menschen, Tiere und Pflanzen aufbaut. Der Stickstoff fehlt nun aber fast ganz im Moorboden. So muß ihn eben der Sonnentau dorther nehmen, wo er zu haben ist: im Körper von Tieren. Verüble ihm also sein räuberisches Dasein nicht gar zu sehr. Wenn Du den Sonnentau im Blumentopf unter einer Glasscheibe ziehst, so läßt er sich mit Fleisch und gequelltem Getreidemehl füttern, weil diese Dinge Eiweiß enthalten. Kartoffelmehl verschmäht er aber; denn es besteht nur aus Stärke. – Uebrigens ist der Sonnentau nicht der einzige Fleischliebhaber unter den Pflanzen. Das Fettkraut mit seinen hellgrünen, fleischigen Blättern, das ich auch schon auf Schlettauer Flur angetroffen habe, treibt es ganz ähnlich. Der dritte im Bunde ist der Wasserschlauch, der einige unserer heimischen Fischteiche bewohnt. In kleinen hohlen Säckchen, die mit einer Klappe verschließbar sind, hascht er sich Wasserflöhe. – Doch genug von dieser mordlustigen Sippe, die so ganz aus der Art geschlagen ist! Die beiden Hahnenfüße, hier im und am kleinen Wässerlein, sind friedlichere Gesellen. Der im Wasser hat weiße Blüten, „Wasserhahnenfuß“ heißt er. Etwas Besonderes hat er aber auch: nämlich zweierlei Blätter! Die einen sind bald wie eine Niere geformt und schwimmen auf dem Wasser, die anderen sind in feine Fäden zerschlitzt und wogen unter der Oberfläche auf und nieder wie eine Flaumfeder im Winde. Sein gelbblühender Vetter mit den länglichen, schmalen Blättern ist ein „flammender Hahnenfuß“, der auch nicht überall zu Hause ist. Ein echter Sumpfbewohner ist auch das niedliche „Läusekraut“ mit seinen rötlichen, löwenmaulartigen Blüten. Wir wollen zur Ehren des hübschen Pflänzchens annehmen, daß es seinen häßlichen Namen von dem slawischen Worte „luza“ = Grassumpf bekommen hat und nicht, wie manche Forscher meinen davon, daß es in alter Zeit zur Bekämpfung der Läuseplage bei Haustieren benutzt wurde.

Vollständig ist die Reihe der moorbewohnenden Gewächse noch lange nicht, doch ich will Dich nicht ermüden, lieber Freund! Nur auf einiges laß mich Dich noch hinweisen: Wundert es Dich nicht, daß wir dort am Waldrande noch mitten im Sumpf das Heidekraut antreffen, das wir doch als Trockenlandspflanze kennen? Du wirst ungläubig den Kopf schütteln, wenn ich Dir sage, daß die Sumpfpflanzen oft genug dem Verdursten nahe sind! Und doch ist es an dem. Jeder Mensch weiß, wie leicht man friert, wenn der Körper mit Schweiß bedeckt ist. Bei der Verdunstung entsteht Kälte. So ist’s auch im Moor, dessen Boden durch die dauernde starke Wasserverdunstung immer sehr kalt ist. Diese Bodenkälte und die oben erwähnte Humus-Säure lähmen aber die kleinen Saugwurzeln der Pflanzen und hindern sie an der Nahrungs- und Wasseraufnahme. So herrscht also hier auf dem nassen Erdreich ein verzweifelter Kampf ums Wasser, und das Heidekraut findet hier ähnliche Verhältnisse wie auf dem trockenen Sandboden. Trefflich ist die Pflanze für den Kampf ausgerüstet: Klein und nadelartig sind die Blättchen, so daß sie nur wenig Wasser verdunsten können. Immergrün sind sie außerdem, denn der kärgliche Boden gestattet ihnen den Luxus eines alljährlichen Kleiderwechsels nicht. – Rasch noch einen Blick auf das Heidel- und Preiselbeergestrüpp, das hier den Vormarsch aufs schaukelnde Moor antritt. Unter dem gewöhnlichen Volk steht auch eine vornehmere Verwandte: die „Moosbeere“. Sie ist viel zierlicher als ihre Heidelbeer-Verwandtschaft und schmückt mit ihren dunkelroten Blüten und den großen roten Beeren gar lieblich die tiefgrünen Moospolster. – – –

Die Nebelschleier, die leise zu steigen beginnen, der kühle Abendwind, der mit den Blättern der Erlen und Weiden spielt. – sie mahnen uns zur Heimkehr! Still und friedlich liegt die weite Fläche da, und doch welch harter Kampf ums Dasein allenthalben! Wenn dann noch drüben im hohen Forst die Ohreule klagt, wenn hoch am nachtblauen Firmament die Himmelsziege meckert, dann hast Du ein Heimatbild von eigenartigem Zauber und schlichter Schönheit. Es wird Dir ein stiller Mahner sein, der schönen Heimatnatur Deinen Schutz und Deine Liebe zu weihen! Und hast Du Zeit und Lust, so lenke Deine Schritte auch einmal in „das Gesäure“, wie der Volksmund treffen dieses Wiesenmoor benannt hat.

Schlettauer Heimatblätter. 1. Jahrgang, Nr. 3 v. 15. November 1925, S. 2 – 4